mein persönlicher Weg-

„Nichts verschwindet je, bis es uns gelehrt hat, was wir wissen müssen.“
Pema Chödrön
Vom Überleben zur Lebendigkeit
Erste Erinnerungen
Vieles über meine Kindheit habe ich erst Jahrzehnte später erinnert, verstanden und einordnen können. Begleitet haben mich die erfahrenen Verletzungen auf emotionaler Ebene aber seit eh und je. Für mich war mein Leben ‘normal’ und ich glaube auch von aussen wurde das so gesehen. Ich habe eine erfolgreiche Schulzeit durchlebt, eine Ausbildung zur Kauffrau abgeschlossen, die Fahrprüfung bestanden, einige Jahre auf dem Beruf gearbeitet, hatte immer viele Menschen um mich, war lange Zeit in einer Partnerschaft. Wenn ich heute auf diese Zeit zurückschaue, habe ich damals viel Wut und darunter noch mehr Trauer unterdrückt.
Ablenkung und Getriebenheit
Gelungen ist mir dies, indem ich ganz viele Kontakte geknüpft habe, immer unterwegs war, mich gerne hi und da dem Alkohol und den Zigaretten hingegeben habe – kurz: mich von mir abgelenkt habe. Ich war getrieben, nicht von einem inneren erfüllenden Antrieb, wo ich hin wollte, sondern getrieben von der Angst, um keinen Preis allein zu sein. Wann immer ich konnte, bin ich mir selbst ausgewichen.
Erste innere Gegenstimme
Mitte zwanzig spürte ich: Irgendwie kann das so nicht weitergehen, irgendwas fehlte. In mir widersetzte sich ein winzig kleines Sandkorn, das auf sich aufmerksam machte und mir irgendwie mitteilen wollte: Da läuft irgendwas schief in deinem Leben!
Die ersten Veränderungen
Es begann sich immer mehr zu regen, ich begann immer mehr darauf zu hören. Ich reiste für drei Monate nach Australien, ich begann mir Gedanken über mein Leben zu machen, über meine langjährige Beziehung, über meinen Job. Die Dinge begannen sich nicht mehr richtig anzufühlen. Ich probierte mich aus in verschiedenen Jobs, ich löste mich aus der langjährigen Partnerschaft, ich machte mich auf den Weg.
Neue Perspektiven
In dieser Zeit begegnete ich meinem heutigen Mann. Er zeigte mir eine ganz andere Welt, die ich so nicht kannte, er sah etwas in mir, das bis dahin niemand in mir sah. Ich begann mich mehr und mehr mit anderen Augen zu sehen, damit dass noch viel mehr in meinem Leben möglich sein könnte, dass die Welt da draussen grösser war, als ich das bisher erfahren hatte. Ich kündigte meinen Job, ich zügelte nach Zürich, Beziehungen in meinem Umfeld veränderten sich und ich begann mit 27 Jahren ein Psychologiestudium. Ich war ganz aufgeregt über alle diese Schritte.
Konfrontation und alte Muster
Es folgte emotional eine schwierige Zeit. Im Psychologiestudium wurden mir nach und nach meine Augen geöffnet, darüber wie ich aufgewachsen bin, dass man beispielsweise das Familiensystem, in dem ich aufgewachsen bin, ein ‘verstricktes’ Familiensystem nannte. Es flackerte immer wieder das Thema Übergriffe auf. Damals noch vage und dennoch immer wieder herausfordernd konfrontierend für mich. Ein Teil von mir führte meine alten Muster noch weiter: viel in den Ausgang gehen, trinken, rauchen. Aber es passte immer weniger. Diese Übergangszeit fühlte sich wacklig an. Ich spürte: zurück geht es nicht mehr und vorwärts hatte ich noch keine Ahnung, wohin es mich tragen würde.
Zwischen zwei Eisschollen
Ich war irgendwo auf verlorenem Posten. Im Tram belauschte ich einmal zwei Personen, die darüber diskutierten, dass die eine Person gerade von der Ostschweiz nach Zürich gezügelt sei und dass sie sich fühlte wie auf zwei Eisschollen. Die alte und die neue Eisscholle. Sie beschrieb, wie sie versuche mit den Füssen die beiden zusammen zu halten, wie anstrengend das sei und sie noch nicht wisse, auf welche sie hüpfe. Das hat meinen Zustand sehr gut widerspiegelt. Manche Teile von mir wünschten sich zurück in alte Gewohnheiten, andere zogen in eine neue, unbekannte Richtung. Diese Spagatzeit fühlte sich anstrengend, auslaugend und deprimierend an. Ich wurde in vielen Entscheidungen unsicher.
Die Initialzündung
Es war bitter. Irgendwann – daran erinnere ich mich sehr genau – stand ich in Zürich auf unserem kleinen Balkon, rauchte eine Zigarette und dachte: Ich will gesund werden! Es sollte noch Jahre dauern, bis ich mich entsprechend fühlte, aber es war eine Initialzündung. Ich hörte auf zu rauchen, ich trank sehr viel weniger Alkohol. Ich und meine Gefühlszustände rückten damit mehr in mein Bewusstsein.
Selbstzweifel und Perfektionismus
Anstelle des destruktiven Verhaltens tauchten immer mehr Selbstzweifel auf. Und um diesen Stimmen entgegenzuwirken, versuchte ich, alles möglichst perfekt zu machen. Die Studienzeit war eine Konfrontation und eine Offenbarung zugleich. Je mehr es darum ging, in die Arbeitswelt einzusteigen, umso grösser wurden meine Selbstzweifel. Diese Selbstzweifel hatten die Gabe, mich aufs übelste zu malträtieren, sodass ich jeweils noch weniger als ein Häufchen Elend war. Wenn ich jeweils an diesem Punkt angekommen war, war es meine tiefe Überzeugung: ‘ich kann nichts’ oder wenn gar nichts mehr ging: ‘ich bin falsch’. Eine Supervisorin sagte einst zu mir: Da versucht ein Teil von dir, dir immer wieder zu kündigen. Im Nachhinein passt diese Aussage sehr gut, weil es tatsächlich so schien, als wolle dieser Teil, dass ich einfach nicht weitergehe auf meinem Weg. Die Selbstzweifel wollten, dass ich aufhöre mich mit mir auseinanderzusetzen - denn das würde mein Beruf als Psychologin von mir abverlangen - und zurück gehe und etwas ‘Normaleres’ mache.
Die wachsende Perle
Und doch gab es diese Stimme in mir, die mich immer weiterzog, die mich am Ball hielt, die mich nach dem Bachelor zum Master brachte, die mich anschliessend weiter zur Therapieausbildung leitete. Die nun nicht mehr nur ein Sandkorn war, sondern langsam aber sicher, mit jedem Schritt in meine Richtung zu einer Perle reifte, die ich nicht mehr einfach übersehen konnte. Ich blieb auf diesem Weg, obwohl dieser mit diesen übermächtigen Selbstzweifeln sehr beschwerlich war. Es gab Zeiten, da hätte ich lieber aufgegeben, und gleichzeitig dachte ich einfach: Das ist einfach ‘normal’ und ich glaubte dieser Stimme zu 100%. Irgendwie war ich so an diese Selbstkasteiung gewöhnt, dass ich gar nicht daran dachte, dass das vielleicht nicht normal sein könnte.
Innere Dialoge
Paradoxerweise hat mich diese Erkenntnis gleichzeitig auf meinem Weg gehalten. Ich ging davon aus: So geht es allen, das gehört einfach dazu. Irgendwann in dieser Zeit begann ich Briefe an meinen inneren Kritiker zu schreiben. Es waren innere Dialoge, die ich allesamt aufschrieb und die ich noch jahrelang fortführte und meinen inneren Kritiker und dadurch mich selbst nach und nach begann besser zu verstehen. Ich begann mich nach jeder einzelnen Therapiesitzung mit meinen Patient*innen mit mir auseinander zu setzen und mich zu fragen: Was ist da in dieser letzten Stunde in mir drin passiert, wo bin ich durcheinandergekommen, wo hat mein Gegenüber etwas in mir ausgelöst? Ich habe mich schrittweise immer mehr mit mir und meinen Mustern auseinanderzusetzen begonnen, mich kennen- und verstehen gelernt.
Identitätskrise
Auf Empfehlung einer lieben Mitmenschin, die meine Selbstzweifel kannte, besuchte ich den Kurs ‘Erst komm’ ich…!’. Es geht darum, sich selbst an die erste Stelle im Leben zu setzen. Bevor ich den Kurs machte, dachte ich noch: ‘Ach, dieses Thema hat doch gar nichts mit mir zu tun.’ Mit dem Kurs dann die erschreckende Erkenntnis: Dieses Thema hat alles mit mir zu tun. Es war zermürbend, es löste in mir eine Identitätskrise aus. Im Nachhinein denke ich: Alles absolut logisch, ich habe über Jahre begonnen immer mehr auf mich zu achten und hier in diesem Kurs wurde es noch auf den Punkt gebracht, alles mündete hier hinein. Durch den Kurs kam ich nicht mehr drum herum, mich um meine Schmerzpunkte zu winden.
Der Körper als Schlüssel
Ich machte einen Schritt nach dem andern. Ich nahm Supervisionsstunden bei einer Körperpsychotherapeutin, ich entschied mich für eine Körperpsychotherapie-Weiterbildung, weil ich merkte, dass ich mit meinem Kopf an meine Grenzen stiess. Ich ging in die Selbsterfahrung bei einem Körperpsychotherapeuten und befasste mich Schritt für Schritt mit meinen Schutzanteilen, einer nach dem anderen tauchte auf, mein Innerer Kritiker allen voran. Es war ein schmerzhafter Prozess, bei dem ich radikal ehrlich zu mir selbst war und meine eigenen Manipulationen nach und nach aufdeckte. Ich lernte alle meine Schutzanteile kennen, ich schaffte nach und nach Distanz zu ihnen. So war ich immer weniger von ihnen getrieben, immer weniger ohnmächtig und gewann zunehmend mehr an Handlungsfähigkeit und damit an Selbstwirksamkeit.
Tiefe Verletzungen
In der Auseinandersetzung mit meinem Aufwachsen und meiner Geschichte zeigten sich auch meine tiefsten Verletzungen – Erfahrungen von fehlender Liebe, fehlendem Mitgefühl und der Verletzung meiner körperlichen Integrität. Vieles davon war lange nur halbbewusst und wurde erst über den Körper wirklich zugänglich. Mit zunehmender Distanz zu meinen Schutzanteilen wuchs meine Fähigkeit, Verantwortung für mich zu übernehmen und inneren verletzten Anteilen Halt zu geben. Es war ein schmerzhafter Prozess, in dem sich Bilder und Gefühle aus früher Zeit zeigten – und sich Schritt für Schritt integrieren durften. Diese Auseinandersetzung hat meine innere Stärke vertieft und prägt meine therapeutische Arbeit bis heute.
Innere Stärke
Mit dem Auftauchen des Schmerzes zeigte sich meine innere Stärke mehr und mehr. Ich erkannte immer besser, wer ich bin, ich stand für mich ein, ich stellte meine Würde und meine Integrität wieder her, meine Beziehungen wurden tiefer, ehrlicher, wärmer, liebevoller. Ich fühlte mich klarer, mehr bei mir, mehr und mehr in meiner Mitte. Ich spürte, was ich fähig zu tragen war. Ich spürte mehr Lebendigkeit, ich spürte das Leben, ich lernte die Tiefen wie die Höhen zu halten. Ich begann endlich meine eigenen Grenzen zu spüren. Und vor allem lernte ich, echte Liebe zu spüren, anzunehmen und zu geben.
Ingegration
Je klarer ich wurde, umso mehr spürte ich meine Grenzen und konnte diese auch innerlich klar setzen. Mit dem klaren Setzen dieser Grenzen kamen unerwarteter Weise alte Erinnerungen ins Bewusstsein, die ich geglaubt hatte, vergessen zu haben. Das war äusserst schmerzhaft. Zum Glück hatte ich mein gesamtes Wissen, meine Erfahrungen und in der letzten Therapie gut gelernt, wie ich mit überwältigenden Gefühlen umgehen konnte. So schaffte ich es tatsächlich diese auftauchenden Erinnerungen zu dosieren, die Emotionen zu regulieren und die Erlebnisse zu integrieren. Zu meiner Überraschung dauerte diese Phase - im Vergleich zur jahrelangen Vorarbeit - nur wenige Wochen.
Eine bewusste Wahl
Nach dieser tiefgehenden Aufarbeitung wurde mir klar, dass vieles, was ich in den letzten fünfzehn Jahren getan hatte – das Psychologiestudium, die Therapieausbildungen, die eigene Therapie, Supervisionen und meine Arbeit als Therapeutin – letztlich auf diesen Punkt hingeführt hatte. Und gleichzeitig spürte ich: Etwas war zu Ende.
Ich entschied mich, meinen Beruf als Therapeutin vorerst zu beenden. Nicht aus Erschöpfung, sondern aus Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. In einem fast zehnmonatigen Sabbatical trat ich bewusst aus allem heraus, was bisher selbstverständlich gewesen war.
In dieser Zeit begann ich, mich neu zu fragen, aus welchem Motiv heraus ich diesen Beruf ausüben möchte. Die Antwort kam nicht aus dem Kopf, sondern aus einem stillen, klaren Gefühl: aus Freude. Aus Freude am Menschen, an Begegnung, an innerem Werden.
Mit dieser Entscheidung bin ich in den Beruf zurückgekehrt. Nicht aus Pflicht oder Identifikation, sondern aus freier Wahl.
Aus diesem inneren Ja ist diese Praxis entstanden – direkt aus meinem Herzen heraus.
So ist es heute
Heute bin ich viel mehr bei mir. Ich spüre schneller, wenn ich aus meiner Mitte gerate, und finde bewusster wieder zurück.
Ich lebe mit meinem Mann und unseren zwei Söhnen im schulpflichtigen Alter. Sie sind meine grössten Lehrer – im Alltag, in der Beziehung und im Menschsein.
Ich begegne mir selbst mit Mitgefühl. Meine Beziehungen haben sich verändert, sie sind wärmer und ehrlicher geworden.
Ich kann das Leben heute tiefer geniessen. Ich bin in Kontakt mit meinem Körper, meinen Gefühlen und dem, was sich in mir bewegt. Ich erlaube mir ich selbst zu sein, überhaupt einfach zu sein, zu sagen, was ich will und was ich nicht will. Ich bin klarer und ich bin nicht grösser und nicht kleiner, sondern genau so gross, wie ich bin. Ich spüre meine Verantwortung und trage sie.
Und vor allem: Ich spüre Liebe.
Die Natur ist für mich ein wichtiger Halt geworden. Sie trägt mich, erdet mich und erinnert mich immer wieder daran, Teil von etwas Grösserem zu sein.
Abschliessender Gedanke
Verletzungen passieren – tagtäglich. Wir können sie nicht wegmachen. Was wir tun können: uns ihnen zuwenden, mitfühlend sein, uns den Wunden annehmen, uns selbst umarmen, um dann in einem nächsten Schritt ehrliche Liebe zu leben. Sei es dir wert!